Gedenken an die „Reichspogromnacht“ in Frohnau

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9. November 2014

gedenkstein_frohnauSeit 15 Jahren findet neben der offiziellen Gedenkveranstaltung des Bezirks Reinickendorf am Rathaus Reinickendorf auch  in Frohnau eine Veranstaltung im Gedenken an die „Reichspogromnacht“ vom 9. November 1938 statt. Vor der Johanneskirche am Zeltinger Platz steht seit dem Jahr 2000 ein Gedenkstein, der an die verfolgten und ermordeten jüdischen Nachbarn erinnert.

In jedem Jahr hält ein  Repräsentant einer der in der Reinickendorfer BVV vertretenen Parteien eine kurze Ansprache, bevor an den Lebenslauf von  Frohnauer Juden erinnert wird. Der Redebeitrag des SPD-Fraktionsvorsitzenden Gilbert Collé am 9.11.2014 ist hier nachzulesen:

„Sehr geehrte Frau Pfarrerin Gräb, sehr geehrter Herr Lehmann, sehr geehrte Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinde Frohnau, liebe Kolleginnen und Kollegen der BVV, sehr geehrte Damen und Herren! Es ist mir eine große Ehre heute als Vertreter der Reinickendorfer Bezirksverordnetenversammlung einen Beitrag für diese Veranstaltung zu leisten, die den furchtbaren Ereignissen der Reichspogromnacht am 9. November 1938 gedenkt. Gerade an einem Tag wie heute, an dem überall in der Stadt mit großen Veranstaltungen zum 25. Jahrstages des Mauerfalls, das Jubiläum eines sehr freudigen Ereignisses der deutschen Geschichte gefeiert wird, ist es besonders wichtig sich auch an den 9. November 1938 zu erinnern. Einen Tag, der ein erster schrecklicher Höhepunkt einer Zeit war, die Taten mit einem bis heute unfassbaren Maß an Unmenschlichkeit hervorgebracht hat.

Ich bin sehr froh, dass die alljährliche Gedenkveranstaltung der evangelischen Kirchengemeinde Frohnau inzwischen fester Bestandteil der Reinickendorfer Gedenktradition ist. Der Gedenkstein für die verfolgten und ermordeten jüdischen Nachbarn vor der Johanneskirche, dessen Entstehungsgeschichte  von einer Initiative der Frohnauer Jusos ausging, und der ja durchaus nicht unumstritten war, ist heute ein allseits geachteter Ort lebendiger Erinnerungskultur und eben nicht etwas,  „dass die Bewohner des Ortsteils Frohnau in Verruf bringen könne“, wie diejenigen befürchteten, die Ende der 1990er Jahre gegen eine Gedenktafel in Frohnau waren. Ich betone die heutige überparteiliche Einigkeit über diesen Gedenkstein deshalb, weil diese Haltung nicht immer und überall gesellschaftlicher Konsens ist.

Vor kurzem ist in der Wochenzeitung „Der NordBerliner“ ein Leserbrief veröffentlich worden, in dem ein Reinickendorfer Bürger sich über das andauernde Gedenken an die Nazizeit beschwert hat. Die vielen Gedenktafeln, Stolpersteine und anderes würden ihm „bis oben hin stehen “. Der Leserbriefschreiber stellte dann die Frage, ob es denn nicht irgendwann genug sei mit dem ganzen Gedenken? Der Gedanke, der in diesem Leserbrief steckt, ist einer, den man – meist etwas verstohlen geäußert – immer wieder hört. Warum müssen wir uns heute, über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Nationalsozialismus, wo wir in einem freien und doch so tolerantem Land mit einer gefestigten Demokratie leben, immer noch an Ereignisse erinnern, die so lange zurück liegen und die immer weniger Menschen persönlich erlebt haben?

Vom spanischen Philosophen George Santayana stammt ein Zitat das eine erste Antwort auf diese Frage geben kann: „Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“ Das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist kein Selbstzweck, darf kein leeres Ritual sein. Es ist auch keine Form der Buße, die man nun eben kollektiv über sich ergehen lassen muss. Es ist stattdessen die ständige Mahnung und die Verpflichtung Lehren aus der Vergangenheit für die Zukunft und auch für das eigene Leben zu ziehen. Nicht die Frage „wie hätte ich mich damals verhalten?“ die sich uns, bei Schilderungen über die Ereignisse der offen erkennbaren systematischen Verfolgung von Juden heute unweigerlich stellt, ist dabei entscheidend, sondern die Frage, die daraus folgt: Wie würde ich mich, wie werde ich mich heute verhalten, wenn ich Zeuge davon werde, wie Menschen wegen ihrer Religion oder ihrer Herkunft, angefeindet werden. Wie verhalte ich mich, wenn rechtsradikale und rassistische Standpunkte bei Protesten gegen die  Errichtung von Flüchtlingsheimen formuliert werden, oder wenn – wie es in diesem Sommer passiert ist – bei politischen Demonstrationen ganz offen und unverhohlen antisemitische Parolen verbreitet werden?

„Tradition ist nicht das Aufbewahren der Asche, sondern das Weitertragen des Feuers“ hat der französische Historiker und Politiker Jean Jaurès einmal gesagt. Und in diesem Sinne muss die Tradition des Gedenkens – neben der Erinnerung an das Geschehene – auch vor allem die Weitergabe der Mahnung daran sein, wie schnell aus Mitmenschen Ausgegrenzte, aus Nachbarn Täter und Opfer, aus der zivilisierten Gesellschaft Barbarei werden kann. Damit alles das, was damals geschehen ist, kurz nachdem „Deutsche kauft nicht bei Juden!“ an Schaufensterscheiben geschrieben wurde, im eigenen Bewusstsein ist, zum Beispiel wenn man heute den Spruch „Zigeuner raus“ an der Wand eines Wohnhauses mit Bewohnern rumänischer und bulgarischer Herkunft liest.

Es gibt noch einen zweiten wichtigen Grund für Gedenkveranstaltungen wie diese hier, oder der, die heute Mittag vor dem Rathaus Reinickendorf mit Gästen aus dem tschechischen Ort Lidice stattgefunden hat. Dabei geht es nicht um ums, sondern um die Opfer. Das nationalsozialistische Regime hat Millionen unschuldiger Opfer gefordert. Die Statistiken über die Verbrechen sind so unfassbar wie sie aber auch abstrakt sind. Aber hinter jeder einzelnen Zahl über die Morde der Nazis steckt eine individuelle Biografie, ein Mensch der Kind seiner Eltern war, vielleicht Geschwister und selber Kinder hatte, geliebt wurde und selber liebte. Jedem dieser Frauen, Männer und Kinder wurden das Eigentum, die Heimat, die Würde und schließlich das Leben genommen. Wir können das nicht ungeschehen machen, und wir können nicht wiedergutmachen, was nicht wieder gut zu machen ist! Aber damit, dass wir uns an das Schicksal dieser Menschen erinnern, dass wir Ihrer als Personen gedenken, können wir aus der Zahl, zu der die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten sie gemacht hat, wieder Menschen machen und ihnen so wenigstens ein Stück ihrer Würde wiedergeben.

Deshalb ist das Projekt Stolpersteinen so wichtig, das die Namen und Biografien der Opfer wieder in ihre Heimat bringt, in das Gedächtnis der Nachbarschaft aus der sie einst vertrieben wurden.

Und deshalb sind Veranstaltungen wie diese hier so wichtig, wenn wir uns an das Leben und Schicksal von Menschen wie Margarete und Johanna Rudolphson erinnern, die einmal Frohnauer Nachbarn gewesen sind. Sie wurde verfolgt, vertrieben und ermordet. Aber wir wollen und werden sie nicht vergessen!

Und deshalb lautet die Antwort auf die Frage des Leserbriefschreibers aus dem „NordBerliner“, ob es denn nicht irgendwann genug sei: Nein, es ist nicht genug. Es wird nie genug sein!“